„Diskurs“ – Modewort und Erkenntniswerkzeug

 Diskurs gilt heute als Modewort mit einer schillernden und vagen Bedeutung. Der Begriff ist jedoch mehrdeutig. Er hat eine lange Geschichte und ist nach wie vor ein unverzichtbarer Teil einer funktionierenden Wissenschaftskommunikation.

  

Diskurs ist ein Begriff, der immer mehr in Mode kommt und der mittlerweile inflationär verwendet wird. Selbst belanglose Diskussionen schmücken sich heute mit dem Gütesiegel des Diskurses. Der eigentliche Sinn des Wortes geht dabei häufig verloren. Oft entspricht das, was heute unter einem Diskurs gemeint ist, dem veraltetem, umgangssprachlichem „diskurrieren“ im Sinne von „sich unterhalten“ und „eifrig diskutieren“.

 

Doch Diskurs im eigentlichen Sinn hat mit diesem mittlerweile alltäglichen „Diskurs“ nicht sehr viel zu tun. Dieser dreht sich um eine Diskussion, eine Debatte oder noch weiter gefasst um eine Thematisierung etwa im Sinne „der Diskurs rund um den Klimaschutz“. Dabei fehlt jedoch die theoretische Tiefe, die den gesellschaftlichen vom wissenschaftlichen Diskurs unterscheidet.

 

Die Wissenschaft vertritt einen wissenschaftlichen Konsens. Dieser Konsens ist nicht demokratisch gefunden, sondern er beruht auf methodischen Untersuchungen, Überprüfungen und einer fundierten Debatte. Während gesellschaftliche Meinungsbildung im Idealfall auf demokratischen Strukturen basieren und Mehrheitsentscheidungen sind.  

 

„Dabei ist ein wissenschaftlicher Konsens gerade deshalb so bedeutend, da nicht Meinungen oder Studien gezählt werden, sondern die Konsistenz methodisch starker Studien zu einem Konsens führt." (Mai Thi Nguyen-Kim (2021), S. 332)

 

Der Diskurs als gesellschaftliches Phänomen

 

Michel Foucault (1926-1984) definierte Diskurs in diesem Sinne als die Summe von Begriffen, Texten und anderen Aussagen, die in einer Gesellschaft zu einem bestimmten Thema kursieren. Wie eine Gesellschaft dieses einschätzt und darüber kommuniziert, ist demnach wesentlich durch diesen Diskurs definiert.

 

Dadurch entwickeln sich ungeschriebene Regeln, wie man über ein Thema spricht und was dabei vielleicht auch ungesagt bleiben soll. Diese Regeln sind jedoch nicht unveränderbar, wie etwa der Diskurs rund um sexuelle Belästigung und MeToo zeigt. Dem Reden folgt das Handeln, denn schlussendlich ist die Art und Weise des gesellschaftlichen Diskurses entscheidend dafür, wie und ob überhaupt bei einem bestimmten Thema gehandelt wird. Wie der entsprechende Diskurs in der Gesellschaft abläuft, kann also eine hohe gesellschaftliche Sprengkraft haben.

 

Diese Sprengkraft besteht in demokratischen Gesellschaften dadurch, dass sich im Diskurs Mehrheiten bilden. Eine Mehrheit der Gesellschaft akzeptiert oder befürwortet eine Seite des Diskurses. Wissenschaftlicher Diskurs ist keine Mehrheitsentscheidung. Wissenschaftlicher Konsens ist nicht demokratisch.

 

Diskurs ist Teil der Wissenschaft

 

Der gesellschaftliche Diskurs ist nicht unbedingt vernunftgeleitet und analytisch. Diese Eigenschaften beansprucht der wissenschaftliche Diskurs für sich.

 

Dieser findet in der Wissenschaftskommunikation in zwei Teilbereichen statt: in der Kommunikation nach außen in Form von Öffentlichkeitsarbeit und in der internen Kommunikation der Wissenschaftler:innen in Form eines fachlichen Austauschs.

 

In diesem Sinne ist „der wissenschaftliche Prozess ein ständiger Diskurs und ein Hinterfragen von Hypothesen“, erklärt etwa Detlef Günther, Vizepräsident für Forschung und Wirtschaftsbeziehungen an der ETH Zürich. Er sieht die Aufgabe von Forschenden auch darin, durch das Zugänglichmachen von wissenschaftlichen Erkenntnissen den gesellschaftlichen Diskurs anzukurbeln.

 

Der wissenschaftliche Diskurs ist vor allem eine wichtige Prämisse für den Erkenntnisfortschritt. Dieser braucht die wissenschaftliche Auseinandersetzung und das Nebeneinander von unterschiedlichen Theorien und Meinungen. Forscher:innen müssen daher die Fähigkeit mitbringen, ihre Positionen im wissenschaftlichen Diskurs zu vertreten, mit anderen zu vergleichen und diese kritisch zu bewerten.

 

Die Wissenschaft setzt sich aber noch auf einer weiteren Ebene mit dem Diskurs auseinander. Schon Foucault erkannte, dass der gesellschaftliche Diskurs sehr stark von Macht und Wissen bestimmt ist. Macht ist dabei ein besonders wichtiger Faktor. Diese Machtströme aufzudecken, ist das Ziel einer wissenschaftlichen Diskursanalyse. Diese muss stets im Auge behalten, wer mit welchen Interessen und Einflussversuchen an einem Diskurs teilnimmt.

 

Im Idealfall ergänzt und verbessert der wissenschaftliche den gesellschaftlichen Diskurs. Das zeigt sich etwa am Beispiel von Geisteskrankheiten. In früheren Zeiten wusste die Wissenschaft nicht viel über die Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten von Geisteskrankheiten. Heute müssen die Erkrankten nicht mehr in Kellern von Krankenhäusern als „Wahnsinnige“ ihr Leben fristen und auch die Einstellung der Gesellschaft zu psychisch kranken Menschen ist positiver und toleranter geworden.

 

Doch diesem Idealfall sind wir aktuell wohl sehr fern, wie Mai Thi Nguyen-Kim in ihrem Buch „Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit“ sehr deutlich hervorhebt.

 

„Die aktuelle Debattenkultur scheint hoch strapaziert, es dominiert Schwarz-Weiß, viele Fronten sind verhärtet. Differenzierte Diskussionen sind oft kaum möglich, geschweige denn ein Konsens.

[…]

Nur wenn man bei einem Streit auf dem Fundament einer gemeinsamen Wirklichkeit steht, funktioniert Streiten, funktioniert Debatte, […].“ (Mai Thi Nguyen-Kim (2021), S. 13)

 

Kritik des Diskurses: Flucht in den Elfenbeinturm

 

Der Diskurs steht heute hoch im Kurs – sei es in der Gesellschaft, in der Werbung, im Marketing oder in der Wissenschaft. Er gilt als Gegenpol zum „Streit“ als einer Kommunikationsform, bei der es primär darum geht, seine Sichtweise mit jedem Mittel durchzusetzen.

 

Diskurs hat immer den Charakter eines Miteinanders, bei dem sich beide Seiten gegenseitig aktiv zuhören. Meist besteht kein gemeinsames Interesse einen Konsens zu finden – oder eine gemeinsame Wirklichkeit. Jede Partei des verfälschten Diskurses will die andere davon überzeugen im Recht zu sein: Es gibt nur Schwarz-Weiß.

 

Doch wie der gesellschaftliche Diskurs bleibt auch das wissenschaftliche Pendant nicht selten eine leere Worthülse, die ihre Versprechungen nicht oder nur teilweise einlöst. Seit Jürgen Habermas in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts den Diskurs salonfähig gemacht hat, erlebt etwa die wissenschaftliche Fachliteratur eine regelrechte Diskursflut. Die Palette reicht vom Diskurs des Rechtsverständnisses über Diskursethik bis hin zur Diskurstheorie der sozialen Ungleichheit.

 

Philip Greifenstein, Redakteur und Gründer des Politik- und Kulturmagazins „Die Eule“, prangert diese Inflation der Diskurs-Vokabel im Wissenschaftsbetrieb an. Er sieht in ihr einen Marker für angebliche akademische Bildung nach dem Motto „Seht her, ich bin theoriemäßig up to date!“. Die Folge sei aber eine Abnützung des gewünschten Effekts: „Übrig bleibt ein Standesdünkel der Besserwisser*innen, der andere von der Diskussion ausschließt. Vermutlich gerade diejenigen, für die man zu streiten meint“, erklärt Greifenstein in einem „Eule“-Beitrag.

 

Er plädiert wie etwa auch Wolfgang Sofsky, der an den Universitäten Erfurt und Göttingen lehrt, dafür, mal wieder richtig zu streiten und sich dabei als ganze Person und nicht nur mit seinem Geist, sondern auch mit dem Körper und dem Herzen in die Schlacht zu werfen. Aktives Zuhören hat schließlich auch seine Schattenseiten, wenn es darin gipfelt, jede Meinung, und sei sie noch so bescheuert, gelten zu lassen.

 

„Harmoniesucht kuscht vor der Macht, Streit setzt ihr Widerstand entgegen“, bringt es Professor Wolfgang Sofsky auf den Punkt.

 

Harmonie in allen Ehren. Das Ziel ist nicht sich nicht mehr zu streiten – wir müssen besser streiten!

 

Mai Thi Nguyen-Kim schließt ihr Buch mit einem klaren Fazit ab: Konstruktive Debatten brauchen „wissenschaftlichen Spirit – wissenschaftliches Denken, wissenschaftliche Methoden, wissenschaftliche Fahler- und Diskussionskultur.“ (Mai Thi Nguyen-Kim (2021), S. 343)

 

Dieser wissenschaftliche Spirit kann die gemeinsame Wirklichkeit sein, die jede gute Debatte ermöglicht. Diese kleinste gemeinsame Wirklichkeit setzt aber Verständnis voraus: Gesellschaft und Wissenschaft müssen dem Anspruch dieser Wirklichkeit genügen wollen. Sie müssen sich streiten wollen – und zwar vorwärts.

 

„Ohne ein gemeinsames Verständnis von Wirklichkeit, auf dessen Fundament wir unsere Debatte austragen, streiten wir nur auf der Stelle und nicht vorwärts. Wissenschaftlichkeit heißt nicht, weniger zu streiten, sondern besser.“ Mai Thi Nguyen-Kim (2021), S.343)

 

Dann macht Streiten auch wieder Spaß!

Wenn Sie Fragen haben oder mal mit mir gepflegt streiten möchten ;-) , schreiben Sie mir oder vereinbaren Sie ein Einzelgespräch über diesen Link.

Autorin: Dr. Anna Kollenberg

Veröffentlicht:: 23. Dezember 2022

Quellen:

Mai Thi Nguyen-Kim (2021), Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit, Droemer Verlag.

 

Internetquellen:

https://www.ulb.uni-muenster.de/lotse/informiert_bleiben/wissenschaftskommunikation.html

https://kups.ub.uni-koeln.de/6874/

https://uebermedien.de/33752/hasswort-diskurs/

https://www.derstandard.at/story/2000139721224/unsere-wissenschaftsfeinde

https://www.derstandard.at/story/2000139721224/unsere-wissenschaftsfeinde

https://www.diskurs-wissenschaftsnetz.at/

https://ethz.ch/de/news-und-veranstaltungen/eth-news/news/2019/10/interview-detlef-guenther.html

https://www.infosperber.ch/gesellschaft/kultur/sprachlust-als-modewort-ist-diskurs-ein-opfer/

http://webdoc.sub.gwdg.de/ebook/diss/2003/fu-berlin/2003/144/kap2.pdf

https://schweizermonat.ch/von-der-harmoniesucht/#

Anna KollenbergKommentieren