#ShowyourResearch | Regina Gerlich zu Elder Abuse
Unter dem Motto #ShowyourResearch stellen Promovierende ihre Themen vor und berichten über ihre Erfahrungen mit Wissenschaftskommunikation. Diese Interviews sind im Rahmen einer SchreibChallenge der Coachingzonen Wissenschaft im September 2021 entstanden.
#ShowyourResearch
Regina Gerlich zu Elder Abuse
Vielen Dank, liebe Regina, dass du dir die Zeit nimmst, unsere Fragen kurz zu beantworten.
Magst du uns dein Forschungsthema kurz erläutern?
Viele ältere Menschen brauchen Unterstützung. Dies kann beginnen bei der Hilfe von Organisatorischem (z.B. für Bankangelegenheiten und Arzttermine) über die Unterstützung bei Alltagsangelegenheiten (z.B. Einkaufen und Kochen) bis hin zur ganz konkreten Pflegetätigkeit (z.B. Nahrung/Medikamente verabreichen und Körperpflege). Oft wird diese Hilfe von nahestehenden Personen erledigt: Familienmitglieder, Bekannte, Freunde, Nachbarn. Dies geschieht häufig unentgeltlich und in bester Absicht helfen zu wollen – oder vielleicht sogar mit dem Gefühl helfen zu müssen.
Helfende überschreiten dabei zwangsläufig Grenzen, die sie bei nicht-unterstützungsbedürftigen Personen wahren würden – das gehört dazu, sonst könnten sie ihre Aufgabe gar nicht erfüllen.
Nun ist der Übergang zu anderen Grenzen aber manchmal fließend und den Personen, die es betrifft, ist gar nicht so bewusst, dass sie sie überschreiten. Dies betrifft auch das Thema "Gewalt gegenüber älteren Personen". Gewalt ist dabei mehr als nur die körperliche Ausübung von Gewalt. Es kann auch beinhalten, dass die helfende Person die unterstützungsbedürftige Person finanziell ausbeutet (financial abuse), emotional erpresst, sie demütigt und beleidigt (emotional and psychological abuse), ihr Hilfe/Pflege entzieht (neglect), Medikamente nicht angemessen verabreicht usw.
Dieses Fehlverhalten kann aus dem Nichtwissen entstehen, was diese Handlungen bewirken können oder rein aus dem Fehlen von Informationen, wie es besser geht. Ein Fehlverhalten kann aber auch aus Sicht der Helfenden als durchaus gerechtfertigt erscheinen.
Es könnte die Frau sein, die ihre Schwiegermutter bei sich zuhause pflegt. Weil sie das Gefühl hat, dass ihr das zusteht, überweist sie sich jeden Monat 300€ vom Konto der Schwiegermutter auf ihr eigenes Konto – ohne Absprache. Die Kontovollmacht hat sie ja.
Es könnte die erwachsene Tochter sein, die für den verwitweten, alleinlebenden Vater den Haushalt macht. Aus Überforderung schreit sie ihn häufiger an, dass er nicht so viel Geschirr benutzen soll, nicht so viel Dreck machen und ruhig etwas dankbarer sein könnte, da sie sonst gar nicht mehr kommt.
Es könnte der übermüdete Ehemann sein, der sich um seine demente Frau liebevoll kümmert. Aber er möchte einfach mal wieder ein paar Nächte durchschlafen und nicht von der Unruhe oder dem Toilettendrang der Frau geweckt werden. Also mischt er ihr abends eine Schlaftablette unters Essen und zieht ihr nachts eine Windel an.
Wie können Menschen für diese Thematik sensibilisiert werden, damit dieses Verhalten entweder gar nicht erst auftritt oder wenigstens künftig vermieden wird? Die Sensibilisierung sollte im besten Fall bewirken, dass die Personen sich Unterstützung suchen, wenn sie selbst nicht mehr weiterwissen.
Das Ziel meiner Doktorarbeit ist, eine Antwort nach dem folgenden Schema zu finden:
Es gibt Merkmale x, y, z, die beeinflussen, wann Menschen bestimmte Verhaltensweisen gegenüber älteren, hilfebedürftigen Personen noch als moralisch vertretbar ansehen und wann nicht mehr. Für die entsprechenden Situationen/Merkmale können Menschen mit den Maßnahmen a, b, c sensibilisiert werden, damit sie dieses Verhalten vermeiden.
Mein Ziel ist also, diese Merkmale zu identifizieren und entsprechende Maßnahmen abzuleiten.
Wir würden gerne wissen, welche Relevanz der Austausch mit anderen Wissenschaftler:innen für den Fortschritt deiner Arbeit hat? Was hilft dir beim Schreiben deiner Dissertation?
Austausch mit anderen (Nachwuchs-)Wissenschaftler:innen nimmt mir inneren Druck raus, da ich merke, dass viele von uns die mehr oder wenigen dieselben Problemen zu bewältigen haben. Es beruhigt auch zu erfahren, dass die Probleme (meist) bewältigbar sind. Hilfreich ist dann auch zu erfahren, dass es oft nicht nur die eine Lösung gibt. Ich höre/lese mir verschiedene Bewältigungsstrategien an und entscheiden dann, was für mich selbst gut passen könnte.
Ich lerne auch indirekt mehr über mein eigenes Schreiben, indem ich Sachen von anderen (korrektur-)lese. Im eigenen Thema ist man oft schon so tief drin, dass man manches gar nicht mehr sieht. Wenn ich mit etwas Abstand meine eigenen Sachen nochmal lese, merke ich dann oft erst, woran es bei mir hakt(e).
Welche Herausforderungen siehst du speziell in deinem Fachbereich für die Kommunikation im nicht-akademischen Kontext?
Die größte Herausforderung für mich ist die Wortwahl in Bezug auf mein Thema für den deutschen Sprachgebrauch. Im Englischen ist das Phänomen, dessen moralische Wertigkeit ich mir anschauen möchte, knackiger mit „Elder Abuse“ oder „Elder Mistreatment“ beschrieben. Im Deutschen gibt es die sperrige Entsprechung „Gewalt gegenüber älteren (hilfebedürftigen) Personen“ und unglücklicherweise ist „Gewalt“ häufig mit körperlicher Gewalt assoziiert. Dass darunter auch financial abuse oder neglect fallen könnte, wird erst nach vielen einleitenden Sätzen nachvollziehbar.
Falls hierzu jemand Ideen hat, freue ich mich über einen Austausch. :-)
Vielen lieben Dank, dass du uns einen Einblick in deine Arbeit gegeben hast.
Titelbild by Sai Balaji Varma Gadhiraju on Unsplash
Foto by Regina Gerlich (privat)
Veröffentlicht am 22. Oktober 2021